ZK 2013 234 - Der klagenden Partei kommt im Verfahren um Erteilung der unentgeltlichen Rechtspflege an die beklagte Partei keine Beschwerdelegitimation zu
ZK 13 234, publiziert November 2013
Entscheid der 1. Zivilkammer des Obergerichts des Kantons Bern
vom 12. Juli 2013
Besetzung
Oberrichterin Pfister Hadorn (Referentin), Oberrichter Studiger und Oberrichter Kunz sowie Gerichtsschreiberin Künzi
Verfahrensbeteiligte
A. AG,
vertreten durch Rechtsanwalt X.
Gesuchsgegnerin/Beschwerdeführerin
gegen
B.,
vertreten durch Rechtsanwalt Y.
Gesuchsteller/Beschwerdegegner
Gegenstand
unentgeltliche Rechtspflege (uR)
Beschwerde gegen den Entscheid des Regionalgerichts Oberland vom 24. April 2013
Regeste:
• Art. 117 ff. ZPO und Art. 319 lit. b Ziff. 2 ZPO
• Der klagenden Partei kommt im Verfahren um Erteilung der unentgeltlichen Rechtspflege an die beklagte Partei keine Beschwerdelegitimation zu
Redaktionelle Vorbemerkungen:
Angefochten war ein Entscheid des Regionalgerichts, in welchem das Gesuch von B. um unentgeltliche Rechtspflege gutgeheissen wurde. Die Hauptsache betraf eine Forderungsstreitigkeit, bei welcher die A. AG als Klägerin auftrat und B. als Beklagter. Die A. AG hatte in ihrer Stellungnahme zum Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege dessen Abweisung beantragt. B. wurde danach vom Gericht aufgefordert, weitere Unterlagen einzureichen. B. kam dieser Aufforderung nach, ein weiterer Schriftenwechsel wurde nicht angeordnet. In ihrer Beschwerde beantragte die A. AG, der Entscheid betreffend Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege sei aufzuheben und das entsprechende Gesuch sei abzuweisen, eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück zu weisen.
Auszug aus den Erwägungen:
(...)
II.
( )
5. Das Verfahren um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege ist ein Einparteienverfahren, an dem die Gegenpartei im Hauptverfahren nicht als Partei teilnimmt (Bühler, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Band I, Bern 2012, N 8 zu Art. 121 ZPO). Wird die unentgeltliche Rechtspflege ganz teilweise abgelehnt entzogen, hat die gesuchstellende Partei die Möglichkeit, den Entscheid gemäss Art. 121 ZPO anzufechten. Die Gegenpartei ist mangels Rechtsschutzinteresse nicht legitimiert (vgl. Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], S. 7303). Ob die Gegenpartei zur Beschwerde legitimiert ist, wenn die unentgeltliche Rechtspflege erteilt wird, ist in der Lehre umstritten (vgl. Entscheid des Obergerichts Aargau. 4. Zivilkammer, 6. September 2012, ZSU.2012.77, publiziert in: CAN 2 - 13, Nr. 33).
Ein Teil der Lehre vertritt die Auffassung, dass der Gegenpartei die Beschwerde nach Art. 103 ZPO offen stehe, dies aber nur, wenn mit der Gutheissung des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege zugleich die Befreiung von der Sicherheitsleistung für die Parteientschädigung verfügt wird bzw. eine bereits verfügte Kaution wieder freizugeben wäre (vgl. Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, S. 7303; Huber, in: Brunner/Gasser/Schwander [Hrsg.], DIKE-Kommentar ZPO, Zürich/St. Gallen 2011, N 7 zu Art. 121 ZPO; Rüegg, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Basel 2010, N 1 zu Art. 121 ZPO; Gasser/Rickli, Schweizerische Zivilprozessordnung, Kurzkommentar, Zürich/St. Gallen 2010, N 2 zu Art. 121 ZPO; Mohs, in: Gehri/Kramer [Hrsg.], Schweizerische Zivilprozessordnung, Kommentar 2010, N 2 zu Art. 121 ZPO; Baker & McKenzie [Hrsg.], Schweizerische Zivilprozessordnung (ZPO), Bern 2010, N 2 zu Art. 121 ZPO; vgl. auch Bühler, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Band I, Bern 2012, N 5 zu Art. 121 ZPO, welcher die Beschwerdelegitimation der Gegenpartei jedoch auch noch aus anderen Gründen bejaht).
Andere Autoren bejahen dagegen die Beschwerdelegitimation der Gegenpartei direkt gestützt auf Art. 121 ZPO, mit der Begründung, dass die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege die Befreiung von Sicherheitsleistungen von Gesetzes wegen impliziere, womit die Beschwer gegeben sei (vgl. Staehelin/Staehelin/Grolimund, Zivilprozessrecht nach dem Entwurf für eine Schweizerische Zivilprozessordnung und weiteren Erlassen - unter Einbezug des internationalen Rechts, 2008, § 16 N 68; Emmel, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO), 2. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2013, N 2 zu Art. 121 ZPO; Kunz/Hoffmann-Nowotny/Stauber [Hrsg.], ZPO-Rechtsmittel Berufung und Beschwerde, Kommentar zu den Art. 308-327a ZPO, N 22 zu Art. 319 ZPO; wohl auch Jent-Sorensen, in: Oberhammer [Hrsg.], Schweizerische Zivilprozessordnung, Kurzkommentar, Basel 2010, N 2 zu Art. 121, der unter Hinweis auf den Text der Botschaft zur Zivilprozessordnung ein Beschwerderecht nach Art. 121 ZPO annimmt).
Beide Lehrmeinungen leiten die Beschwerdelegitimation der Gegenpartei letztlich daraus ab, dass die gesuchstellende Partei mit der Gutheissung des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege von der Leistung einer allfälligen Sicherheit für die Parteientschädigung befreit wird (Art. 118 Abs. 1 lit. a ZPO), woraus der Gegenpartei ein Nachteil erwachsen könnte. Das Recht, eine Sicherheitsleistung für die Parteientschädigung zu beantragen steht indessen nur der beklagten Partei zu (Art. 99 Abs. 1 ZPO). Die Beschwerdeführerin ist im Forderungsprozess jedoch klagende Partei, womit sie nach Art. 99 Abs. 1 ZPO keine Sicherheitsleistung für die Parteientschädigung beantragen kann, unabhängig davon, ob der beklagten Partei die unentgeltliche Rechtspflege gewährt wird nicht. Ihr erwächst insofern kein Nachteil aus der Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für den Beschwerdegegner. Folglich ist sie weder nach Art. 103 ZPO noch nach Art. 121 ZPO zur Beschwerde legitimiert.
6. Huber vertritt die Auffassung, dass der Gegenpartei ein Beschwerderecht zustehe, unabhängig davon, ob mit der Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege zugleich ein Kautionsgesuch abgewiesen eine bereits verfügte Kaution freigegeben werde. Denn mit der Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege drohe der Gegenpartei (zumindest bei einer Befreiung von der Kautionspflicht) unter Umständen ein nicht leicht wieder gutzumachender Nachteil, so dass der Gegenpartei die Beschwerde nach Art. 319 lit. b Ziff. 2 ZPO offen stehe (vgl. Huber, in: Brunner/Gasser/Schwander [Hrsg.], DIKE-Kommentar ZPO, Zürich/St. Gallen 2011, N 7 zu Art. 121 ZPO).
Auch Huber geht offenbar von der Konstellation aus, dass der beklagten Partei durch die Erteilung der unentgeltlichen Rechtspflege an die klagende Partei ein Nachteil entstehen könnte, da dadurch eine allfällige Sicherheitsleistung entfallen würde („zumindest bei einer Befreiung von der Kautionspflicht“; Huber, a.a.O., N 7 zu Art. 121 ZPO). Worin ein solcher Nachteil im umgekehrten Fall für die klagende Partei liegen könnte, ist nicht ersichtlich. Die Beschwerdelegitimation der klagenden Partei gestützt auf Art. 319 lit. b Ziff. 2 ZPO ist daher zu verneinen.
7. Weiter ist zu prüfen, ob der Beschwerdeführerin aufgrund einer Verletzung des rechtlichen Gehörs, namentlich der geltend gemachten Verletzung des Replikrechts, die Beschwerdelegitimation zukommt.
Im Verfahren um Erteilung der unentgeltlichen Rechtspflege gilt ein beschränkter Untersuchungsgrundsatz, wobei die gesuchstellende Partei bei der Abklärung ihrer finanziellen Verhältnisse mitzuwirken hat (vgl. Emmel, a.a.O., N 13 zu Art. 119 ZPO). Das Gericht kann die Gegenpartei anhören (Art. 119 Abs. 3 Satz 2 ZPO). Der Sinn und Zweck der Anhörung der Gegenpartei besteht darin, dem mit dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege befassten Richter zusätzliche Erkenntnisse zu den Einkommensund Vermögensverhältnissen des Gesuchstellers und/oder zu den Prozessaussichten zu verschaffen (vgl. Bühler, a.a.O., N 116 zu Art. 119 ZPO). Das fakultative Anhörungsrecht (Art. 119 Abs. 3 Satz 2 ZPO) verschafft der Gegenpartei im uR-Verfahren keine Parteirechte und demgemäss auch kein Beschwerderecht im Falle einer Nichtanhörung (vgl. Bühler, a.a.O., N 8 zu Art. 121 ZPO). Eine Ausnahme besteht gemäss Bühler dann, wenn der Richter das ihm hinsichtlich der Anhörung der Gegenpartei zustehende Ermessen rechtsfehlerhaft ausübt, was zutreffe, wenn die Anhörung aus sachfremden, unhaltbaren Gründen (Ermessensmissbrauch) unterbleibe wenn der Richter meine, die Anhörung der Gegenpartei liege gar nicht in seiner Ermessenskompetenz (Ermessensunterschreitung). Die Nichtanhörung könne, so Bühler, in diesen Fällen erhebliche rechtliche tatsächliche Nachteile auf Seiten der Gegenpartei zur Folge haben, da sie unter anderem gezwungen sei, das Kostenrisiko eines aussichtslosen Prozesses auf sich zu nehmen, den der Gesuchsteller auf eigene Kosten nicht angestrengt hätte (Bühler, a.a.O., N 9 zu Art. 121 ZPO).
Aus den vorliegenden Akten ist nicht ersichtlich, dass die Vorinstanz die Anhörung der Beschwerdeführerin aus sachfremden, unhaltbaren Gründen unterlassen hätte. Der Beschwerdeführerin wurde die Gelegenheit gegeben, zum Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege des Beschwerdegegners Stellung zu nehmen, was sie mit Eingabe vom 23. Januar 2013 auch tat. Da bereits die Anhörung der Gegenpartei an sich fakultativ ist, besteht auch kein Rechtsanspruch auf einen zweiten Schriftenwechsel bzw. auf Einreichung einer Replik. Im Übrigen hat die geltend gemachte Verletzung des Replikrechts für die Beschwerdeführerin keinen nicht leicht wieder gutzumachenden Nachteil zur Folge. Für die klagende Partei besteht grundsätzlich immer das Risiko, dass die Gegenpartei trotz Unterliegens im Prozess ihrer Zahlungspflicht nicht nachkommt und der klagenden Partei die Gerichtsund Parteikosten sowie den eingeklagten Forderungsbetrag nicht ersetzt. Indem sich die Beschwerdeführerin zum Prozess entschloss, nahm sie dieses Risiko in Kauf. Ob der Gegenpartei die unentgeltliche Rechtspflege erteilt wird nicht, spielt dabei keine Rolle. Der Beschwerdegegner hat den Prozess nicht selbst angestrengt und es ist auch nicht anzunehmen, dass er sich der Klage ohne weiteres unterzogen hätte, wenn ihm die unentgeltliche Rechtspflege nicht erteilt worden wäre (vgl. dazu die Ausführungen in der Beschwerdeantwort vom 24. Mai 2013, pag. 229 ff.).
Die geltend gemachte Verletzung des Replikrechts verschafft der Beschwerdeführerin demnach ebenfalls keine Beschwerdelegitimation.
8. ( )
9. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführerin im Verfahren um Erteilung der unentgeltlichen Rechtspflege an die Gegenpartei keine Beschwerdelegitimation zukommt. Auf die Beschwerde wird daher nicht eingetreten.
(...)
Hinweis:
Der Entscheid ist rechtskräftig